6.30 Uhr. Der Wecker klingelt. Ich zwinge mich, nicht die „Schlummer-Taste“ zu drücken. Das war anstrengend. Ich beschließe, zur Belohnung noch bis zum Klingeln des zweiten Weckers liegenzubleiben, und kuschele mich in die Decken. Dann wundere ich mich: Der andere Wecker bleibt stumm. Ich greife zum Handy und lese im Halbschlaf: 5.34 Uhr. Komisch. Die Zeitumstellung ist doch erst morgen Nacht. Ich schaue in die Uhren-App. Mein Handy beharrt darauf: Es ist eine Stunde früher, als der analoge Wecker behauptet. Wer hat Recht? Ein paar Minuten wacher kommt mir eine Idee. Ich schaue in die Grundeinstellungen des Handys und nach der eingestellten Zeitzone: Hebron. Ich stelle manuell auf Jerusalem um – und siehe da: Die beiden Zeitmesser sind sich wieder einig. Die Zeitumstellung in den palästinensischen Gebieten findet tatsächlich einen Tag früher statt. Fünf Kilometer Luftlinie von meinem Bett ist es erst 5.38 Uhr. Hier dagegen… ist es höchste Zeit!
Zeit-Zonen, Zeit-Vorstellungen, Zeit-(In)Begriffe,… gibt es in Jerusalem viele. In Sachen „Vorliebe für Klappfahrräder mit Elektromotor“ sind die Einwohner dieses Landes der Zeit meiner Heimat zum Beispiel um einiges voraus. Die traditionelle Tracht mancher Einwohner (durchaus auch im Schnittfeld mit den Klappfahrradliebhabern) wirkt dagegen bisweilen auch im Verhältnis zu anderen Zeiten hier, im selben Land, eher ungleichzeitig.
Eines meiner fünf arabischen Wörter (mittlerweile sind es etwa 10…) lautet „bukra“ – morgen. Je nachdem, kann das morgen heißen, aber auch übermorgen, nächste Woche oder irgendwann. Wörtlich übersetzt wohl am ehesten „nicht heute“. Eine Sprache, Kultur, Mentalität mit einer ganz eigenen Zeit-Zone. Was ich gelegentlich umgekehrt von meinen spanischen, lateinamerikanischen, französischen, italienischen Zeit-Genossen hier scherzhaft auch umgekehrt vorgehalten bekomme…
In einer ganz eigenen Zeit-Zone liegt auch das große Postamt in der Jaffa-Straße. Ich erinnere mich, dass es eine meiner ersten Aufgaben als Studienjahrs-Assistentin war, zusammen mit meinem Kollegen und einem der Mönche zur Post zu fahren, um hier ein Paket abzuholen. Damals blieb ich im Auto sitzen, in der irrigen Annahme, das könne schlecht mehr als fünf Minuten dauern…
Zumindest kann keiner sagen, ich wusste nicht, auf was ich mich einließ, als ich am Dienstag den Schlüssel zu unserem Postfach erbat. Glücklich über jemanden, der freiwillig zur Post gehen wollte, hatten mir die Schwestern allerlei Aufträge mitgegeben. So lernte ich, dass man auf der Post nicht nur das Postfach leeren und Pakete abholen, sondern auch die Wasserrechnung bezahlen und manch andere staatsbürgerliche Pflicht erfüllen kann.
Das System aus Postfächern, Schaltern und Warteplätzen ist dabei für einen unbefangenen, normal begabten Laien nicht unmittelbar einsichtig. Teilweise sind die Beschriftungen und Gebrauchsanweisungen, in meinem Fall auch das Schild „Schalter heute nicht besetzt. Bitte drüben anstellen.“, nur in hebräischer Sprache gehalten. Teilweise werden die Nummern, die man – wie wohl in jeder Amtsstube, weltweit… – erwartungsvoll aus einer Maschine zieht, und die verschiedene Besuchsanlässe schon einmal vorsortiert, nicht ausgedruckt oder beim Aufrufen übersprungen. (Ich ziehe hoffnungsvoll eine weitere Nummer aus dem Apparat.) Oder so schnell aufgerufen, dass es schon wieder vorbei ist, wenn man den richtigen der zwölf Schalter endlich erreicht hat. (Ich setze mich mit Mühe gegen den Besitzer der Nummer nach mir durch, der vor mir am Schalter angekommen ist.) Von den zwölf Schaltern sind ohnehin nur drei besetzt.
Mit Ephraim Kishon, der (bei ähnlichem Anlass) vermutlich wusste, wovon er schrieb, könnte man meine Zeit auf dem Postamt zusammenfassen: Ich schreibe mehrere Kurzgeschichten, führe drei Ferngespräche und beginne mit den Skizzen zu einer größeren Monographie… Unwillkürlich bin ich versucht zu fragen, ob der Aufruf der Wartenummer oder die Wiederkunft des Messias eher zu erwarten sei. Die Frage entscheidet sich zuletzt zugunsten der Postabfertigung: Meine Briefwahlunterlagen für die Bayernwahl sind angekommen. Sie haben buchstäblich eine Zeit-Reise hinter sich. Ob sie für die kommende Landtagswahl wiederverwendbar sind?
Am heiligsten Ort der Christenheit, in der Grabes- oder Auferstehungskirche (Anastasis), gehen die Uhren auch ganz buchstäblich anders: Im Jahr 1852 promulgierte der Sultan des Osmanischen Reichen den sogenannten „status quo nunc“, mit dem die Besitz- und Liturgierechte der vier christlichen Konfessionen, die sich die Grabeskirche teilen, festgeschrieben wurden. Seitdem funktioniert die Abmachung, die manche für eine der empfindlichsten ökumenischen Einigungen der Kirchengeschichte halten, von gelegentlichen kleineren Scharmützeln abgesehen, erstaunlich gut. Da es im Jahr 1852 noch keine Sommerzeit gab, gibt es, zur Vermeidung größeren Durcheinanders, die Zeitumstellung in der Grabeskirche bis heute nicht. Wer in die Kirche eintritt, betritt eine eigene Welt. Und eine eigene Zeit.
Ähnlich wie beim Postamt: Fast egal, wann man in die Zeit-Zone der Grabeskirche eintritt – es ist voll. Und die Zeit wirkt stehen geblieben. Wie die Schlangen vor den Heiligen Orten. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass das Nummernsystem auf der Post doch im Vergleich für verhältnismäßig ordentliche Abläufe sorgt. Zwischen mir und dem Golgotha-Felsen stehen jedenfalls, in ungeordneter Formation und ihren Spanisch und Englisch sprechenden Guides lauschend, eine Menge Touristen. Von Andacht ist wenig zu spüren, zumindest sind die Herrschaften eher fotografie-orientiert, interessieren sich für die Fresken aus dem 17. Jahrhundert („very well conserved“) und für den unfallfreien Abstieg über die steilen Stufen nach unten.
Wir sind im Morgen-Land. Wenn man an diesem Ort seine Ruhe haben will, muss man vor sieben Uhr kommen. Trotzdem kann ich dem Touristenknäuel etwas abgewinnen, als ich, über die Köpfe hinweg, zum Kreuz schaue, das über dem Golgotha-Felsen angebracht ist. „Wenn ich von der Erde erhöht bin, werde ich alle an mich ziehen.“ (Joh 12,32) Stimmt. Sie kommen alle. Drängeln sich sogar. Werden wie magnetisch angezogen von diesem Ort, am Ende der Person, für die der Ort steht. Versuchen, das Flüchtige des Ortserlebnisses im Smartphone festzuhalten.
„… werde ich alle an mich ziehen.“ Das ist jetzt und hier. Die Zeit-Zone Jesu, der im Johannes-Evangelium diese Worte sagt, ist nicht einfach die „Grabeskirchen-Zeit“. Die Zeit-Zone Jesu ist die Gegenwart. Die Zeitform im Postamt war das Futur (oder eher das Futur II: „Wenn ich das Paket abgeholt haben werde…“). Die Zeitform Jesu auf Golgotha ist das Präsens. Die Grabes-Kirche mit ihrer ganz eigenen Zeit (beileibe nicht nur hinsichtlich der Uhr…) kann daran erinnern.
„Angezogen“ werden vom Erhöhten, ist, so kann die Zeit-Zone von Golgotha lehren, ein Erlebnis von Gegenwart. Es geschieht hier und jetzt. Im Präsens. Es geschieht auch, wenn ich nicht danach suche, inmitten von Reisegruppengedränge und kunsthistorischen Fußnoten. Vielleicht merkt manch einer der Gedrängten später zu Hause, dass in Jesu Zeit-Zone, auf Golgotha, auch eine Begegnung geschehen ist.
„Die Zeit ist erfüllt.“, heißt es anderswo im Evangelium. Eintreten in die Zeit-Zone Jesu ist mit dieser Verheißung verbunden. Die Verheißung, so denke ich im Blick auf die „Angezogenen“ auf Golgotha, verbindet in ihrer Gegenwart geheimnisvoll auch all die anderen Zeit-Zonen, Zeit-Vorstellungen, Zeit-(In)Begriffe. Ob die verschiedenen Zeiten dieses Landes es vermögen, daran zu erinnern?