Freitag Abend in Jerusalem. Nach „ora et labora“ in der Bibliothek der École Biblique heute „ora et ede“ in der Dormitio. Vesper, Abendessen und Komplet. Dankbar und in liebenswürdiger Atmosphäre schalte ich auf Wochenende und komme zur Ruhe. (Das Abendessen bringt nebenbei den empirischen Nachweis im Eigenversuch, dass man sich auch an einem freitäglichen Heringssalat und unter monastischen Bedingungen überessen kann, wenn es einfach gut schmeckt…)
Ich schlendere durch die Altstadt zurück auf meine Seite der Stadtmauer. Ungefähr gegenüber vom Zion, wo sich die Dormitio befindet. Auch außerhalb der monastischen Gefilde ist die Altstadt ruhig. Die einen haben noch Freitag — die anderen schon Shabbat. Ich weiß nur ungefähr, wo ich hin will (nach Hause) und genieße die Abwesenheit von Hektik in der Stadt. Straßennamen fallen mir auf, Schilder, Geschäfte, die ich vorher nie wahrgenommen hatte. Eine Stahltreppe aufwärts, und ich bin im ersten Stock. Mancher Studienjahrsstudent wird müde lächeln…, aber hier war ich wirklich noch nie. Über den Dächern des Suk, genauer, der Gasse mit dem Fleischmarkt (wer vorher kein Vegetarier war, kommt darin in Versuchung, besonders im Sommer…).
Vereinzelte Fenster am Rande des Dachplateaus sind erleuchtet. Ich erkenne jüdische Bewohner auf der einen Seite des Plateaus zur Abendessenszeit, auf der anderen muslimische. Den kleinen Garten des Lutherischen Hospizes, die Erlöserkirche, den Kirchturm des Lateinischen Patriarchats. Und die angestrahlte Goldene Kuppel des Felsendoms. Dahinter die dunklen Gärten des Ölbergs. Auf einem Teil des Plateaus hat jemand einen Kinderspielplatz errichtet. Viele Kinderräder stehen herum und viele Bänke, auf denen sich die palästinensischen Bewohner der Altstadt zum Feierabend niedergelassen haben. Jerusalem bei Nacht. Neu und anders. Mehr als in der Basar-Gebets-Pilger-Hektik tagsüber sehe ich Normalität. Den Wunsch nach Ruhe, kleinem Alltagsglück. Nach … Frieden, der am Ende alle verbindet, die am Rande des Plateaus wohnen. Und nicht nur sie.
An der Grabeskirche vorbei, die gerade geschlossen worden ist, nehme ich den Weg durchs christliche Viertel in Richtung „meines“ Stadttors. Amüsiert erkenne ich zwischen den gerade im Schließen begriffenen Andenkenläden ein Fitness-Studio, das mit sehr anschaulichen Plakaten für die Sorge um den Sixpack wirbt.
Einer der kleinen Mini-Supermärkte kurz vor dem Neuen Tor hat noch auf. Ich biege ab, um Drogeriebedarf zu erstehen. Unverdächtig.
Unverdächtig? Ich lerne, dass man auch um Toilettenartikel handeln kann: „Do you want the really, really good ones? I have it in the store, I do not put it here outside, because people do not want to pay the price. But it’s r e a l l y good stuff. Let me show you…“ Der stuff ist r e a l l y good, und J., der mir im Verlaufe der Verhandlungen seinen Namen genannt hat, freut sich, dass ich zugreife.
Das Gespräch nimmt seinen Lauf. Wer den r e a l l y good stuff kauft, ist nicht Kunde, sondern friend… Ob ich Deutsche bin? Ja. „Ah, are you a priest then?“ — „?!? No… I am a catholic sister.“ — „Ah, ok, but I met German ladies who were priests.“ — „You mean pastors?“ — „Oh, yes…“ Ich kaufe neben den Toilettenartikeln noch eine Tafel Schokolade und werde meinen heute neu gelernten arabischen Satz los: „Ich heiße…“
J. ist einer der Palästinenser, die vor 1967 in Ostjerusalem geboren worden sind. Für Jerusalem hat er eine residence card, auch Reisedokumente, aber keine israelische Staatsbürgerschaft. Dann zeigt der griechisch-orthodoxe Christ auf ein Jesus-Bild hinter sich an der Wand: „I do not need the passport. The really important visa is given by Him.“
Zum Abschied schenkt er mir ein frisches Brot. „And when you pass by here tomorrow, I shall get fresh breads from Bethlehem. I give you another one then.“ Ein Brot zu verschenken, hat, besonders in der Griechisch-Orthodoxen Kultur, einen hohen Symbolgehalt. Eines geschenkt zu bekommen, hat etwas Berührendes. Ich möchte teilen. Und selber schenken. Ich glaube, es hat schon gewirkt — das „Visum“, das an J.’s Wand hängt und das alle Türen öffnet. Es hat Kraft, eine Macht, die nicht von dieser Welt ist, Türen zu öffnen. Und Herzen.
[Bild: (c) G. Nassauer, 2018]